Ein halber Sommer

Frühling 1961 in Berlin, dessen Teilung zwar sichtbar, aber noch nicht zementiert ist. Im Ost-Teil der Stadt macht Marie ihre Ausbildung zur Kostümschneiderin, kümmert sich liebevoll um ihren jüngeren Bruder Ecki und erträgt nachsichtig die regimetreue Haltung ihres Vaters. Sie selbst kann der DDR nichts abgewinnen. Sobald Marie Ecki zum Fußballspielen in den West-Teil der Stadt begleitet, stellt sie sich vor, dortzubleiben. Ihren Bruder und ihren Vater im Stich zu lassen, bringt die 17-Jährige aber nicht fertig.
Dann begegnet Marie der unwesentlich jüngeren Helene, genannt Lennie. Sie lebt im Westteil Berlins und pendelt wiederum in den Osten, um bei ihrer Tante Ilse in Prenzlauer Berg das Handwerk der Uhrmacherin lernen. Auch Lennie hat nur einen Elternteil, ihre Mutter. Der Vater ist im Krieg geblieben. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die vor der Wahrheit die Augen verschließt, hat sich Lennie damit abgefunden und sucht sogar nach einem Hinweis, mit dem der Tod des Vaters endgültig wird und die Familie zur Ruhe kommen kann. Ihn findet sie auch. Er ist konstruiert, ihn braucht es aber, um eine Brücke in die Zukunft zu bauen.

Marie und Lennie sind von der ersten Begegnung an füreinander entflammt und kommen sich schnell näher. Vor allem Marie bringt ihre Gefühle und Bedürfnisse selbstbewusst zum Ausdruck, was der eher zurückhaltenden Lennie, die noch im Begriff ist, ihre Rolle zu finden, den Atem nimmt. Beider Liebesgeschichte über die Grenze hinweg erzählt Autorin Maike Stein sehr gefühlvoll und authentisch, deshalb, weil sie sich direkt festlegt, nahe an den Figuren zu bleiben, statt auch noch der historischen Exaktheit gerecht zu werden. Die schriftstellerische Freiheit sei ihr gestattet, dadurch gewinnt der Roman sofort Profil und oszilliert nicht zwischen den Genres. Marie und Lennie erleben alles Wechselbad der Gefühle, das die erste große Liebe – geschrieben wie real – bereithält. Ihr Lebensalltag bringt es mit sich, dass sie ihre gegenseitige Zuneigung zunächst nicht offen nach außen tragen und auch vor ihren Familien verbergen müssen. Umso verblüffender, wie gut sich beide Eltern am Schluss damit arrangiert haben. Gut getroffen ist der Erzählton, leicht und lyrisch. Nur, dass Stein ihre Marie enorm berlinern lässt, wirkt ein wenig aufgesetzt.

Mit dem Mauerbau wird insbesondere Marie auf die Probe gestellt: Gehen oder bleiben. Sie entscheidet sich für einen riskanten Fluchtversuch, der scheitert. Und plötzlich ist es Lennie, von der die Kraft und die Dynamik der Geschichte ausgehen.

Einprägsam und trotzdem leicht wegzulesen ist dieser Roman, der lediglich eine Frage aufwirft: Dass sich zwei junge Frauen im Berlin vor rund 60 Jahren so zügig ihrer Gefühle füreinander bewusst werden, ohne sich zu hinterfragen – ist das realistisch?

Als Bonus gibt es das schöne Titelbild von Carina Crenshaw: Es zeigt ein Mauer-Graffiti zwei sich küssender Frauen, vom Motiv dem „Bruderkuss“ an der East Side Gallery nachempfunden.

Maike Stein: Ein halber Sommer. Oetinger, 272 Seiten gebunden, 19 Euro, als E-Book 12,99 Euro. Ab 14 Jahre.

Todesstreifen

Ben und Marc sehen sich zum Verwechseln ähnlich und sind zunächst sprachlos, als sie einander gegenüberstehen. Ben sagt nichts, weil er einen Knebel im Mund hat. Marc hat Ben gekidnappt, damit er mit dessen Pass in den Westen abhauen kann.

Es ist das Jahr 1985, Berlin durch die Mauer geteilt. Marc, der Ost-Berliner Junge, hat Ärger, weil er sich im Unterricht kritisch äußert. Die DDR, findet er, sei ein Unrechtsstaat. „Wer diskutiert, ist ein Schädling“, entgegnet sein Lehrer und droht, ihn ins Heim zu stecken. Ben, der Junge aus dem Westen, der als Gast-Leichtathlet mit einer Sportlergruppe an Jugendspielen in Ost-Berlin teilnimmt, fällt aus allen Wolken, als ihm Marc den Pass wegnimmt. Er wolle nur solange im Westen bleiben, verspricht Marc, bis er seine Mutter gefunden hat. Die war aus der DDR geflohen, als Marc fünf Jahre alt war. Seitdem lebt der Junge bei seiner Oma.

Die pfiffige Großmutter merkt sofort, dass sie nicht ihren Enkel vor sich hat, als der Junge nach Hause kommt. Ben berichtet ihr alles. Sie will ihm helfen. Doch schnell wird klar, dass die einfache Logik der Jungen zum Scheitern verurteilt ist. Die Grenze ist streng bewacht, die Polizei hält Ben für Marc, und selbst als Bens bester Kumpel Andreas den Pass über die Grenze schmuggelt und Ben in Ost-Berlin trifft, geht die Rechnung nicht auf – denn es fehlt der zugehörige Passierschein. Zurück in den Westen aber darf Ben nur mit beidem. Was bleibt, ist die Flucht über den Todesstreifen. Kleine Ungereimtheiten in der Handlung sind diesem spannenden Mauer-Krimi zu verzeihen. Das Ende kommt unerwartet und ein bisschen gewollt, trotzdem: Klare Leseempfehlung!

Helen Endemann: Todesstreifen. Rowohlt, 256 Seiten broschiert, 14 Euro, als E-Book 9,99 Euro. Ab 13 Jahre.