Der Nachwendige

Den Mauerfall ausblenden, stattdessen die Wendezeit einfangen, dafür gibt Gregor Sander die Regieanweisung in seinem jüngsten Roman „Alles richtig gemacht“. Ein gutes Omen, dass er den Titel als Aussage stehenlässt. Ob der Funkenflug der Wunderkerzen auf dem Cover Hoffnung anzeigt oder Trotz, reflektiert das literarische Brennglas je nach Lichteinfall.

Thomas Piepenburg ist ein Wendegewinner. Dem 19-Jährigen bescheren das Ende der DDR und die Wiedervereinigung die frühzeitige Entpflichtung aus der Armee und ein Füllhorn an Möglichkeiten. Zurückhaltend und korrekt wie ihn seine mecklenburgisch-hanseatischen Eltern erzogen haben, lässt er sich nicht auf den Lockruf des Westens ein, kehrt lediglich der Familienvilla und der in dritter Generation geführten Drogerie den Rücken, und zieht zu seinem Kumpel Daniel in eine Rostocker Abbruchhaus-WG. Seine Ausbildung macht Thomas in der Kaufhalle, die jetzt Discounter heißt aber nicht abgewickelt wird, denn „eingekauft wird immer“.

Die Geschichte bewegt sich zwischen den 1990er Jahren und heute und wird von Thomas erzählt, inzwischen als Anwalt erfolgreich, dafür mit einem Familienleben auf Talfahrt. Was beweist, wie angekommen der knapp Fünfzigjährige im geeinten Deutschland ist: Der Job ist so raumgreifend geworden, dass seine Frau und die beiden Töchter dahinter verschwinden. Eines Tages tun sie das real. Thomas bleibt zurück, saturiert und handlungsunfähig. Damit dieser Zustand nicht die Romanhandlung zum Erliegen bringt, flicht Gregor Sander in klugen, launigen Rückblenden ein, wie seine Protagonisten erst das Ende der DDR, dann den gesamtdeutschen Aufbruch erleben. Die Freundschaft zeigt, welche unterschiedlichen Lebensentwürfe die 1990er Jahre zuließen. Der Autor, Jg. 1968, in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen, sagt selbst, die Party sei gut gewesen. Der Beitritt der ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik gestaltete sich schwieriger.

Es ist Aufgabe seiner Generation, genau diesen Prozess zu spiegeln.

Daniel erliegt den Versuchungen des Westens mehrfach. Er nimmt Drogen, prügelt sich, lässt sich auf riskante Geschäfte ein und auf die falschen Frauen. Seinen Traum, zur See zu fahren, muss er aufstecken. Daniel scheint er das schlechtere Los gezogen zu haben. Der Eindruck dreht sich kurz vor dem (etwas zu erwartbaren) Finale endgültig. „Alles richtig gemacht“ hat allein Thomas – das wäre zu einfach.

Der Roman ist Milieustudie, Generationenporträt und Warnung gleichermaßen. Eine Würdigung verdienen die (Neben-)Schauplätze und ihre Figuren, die so stimmig erzählt sind, dass die Fünfzigjährigen sagen: „Ja, so war es“, die Wende-Nachgeborenen wiederum: „So wird es gewesen sein.“ Die Anstrengung, sich neu zu erfinden, zeichnet sich ab, wenn Thomas‘ oder Daniels Mutter vorbeischaut. Jede hat ihren Platz gefunden und wünscht dem Sohn, dass er das auch schafft. Der Respekt, den ihnen die Geschichte dafür zollt, ist verdient.

Die Pathologie Berlins, die Kulisse der neuen Hauptstadt, in der Gentrifizierung drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall alle Aufbrüche verdaut hat, regt zum Nachdenken an. „Warum zieht man nach Berlin-Mitte, um zu leben wie am Stadtrand von Hannover?“, fragt sich Thomas, als die Sprache auf ein leerstehendes Atelier in einem Hinterhof im Prenzlauer Berg kommt, das einem Town-House gewichen ist. Der Leser schmunzelt – und weiß auch keine Antwort.

Als Romancier der Wende gilt Thomas Brussig. Gregor Sander wäre so gesehen der Nachwedige.

Gregor Sander: Alles richtig gemacht. Penguin, 240 Seiten, 20 Euro.

 

 

 

 

 

 

Alles nur aus Zuckersand

Falkensee an der Grenze zu Berlin-Spandau zählt heute zu den beliebtesten Wohnorten im so genannten Brandenburger „Speckgürtel“ der Hauptstadt. Eine Entwicklung, welche die Stadt ohne den Mauerfall nicht genommen hätte. Während der deutsch-deutschen Teilung war Falkensee Grenz- und Sperrgebiet, nach West-Berlin waren es nur ein paar Schritte, ein Trampelpfad, der über Freiheit und „Gefangenschaft“ entschied.

Jonas‘ Mutter ist das DDR-System leid. Sie gehört der Kirche an. Ihr Sohn bekommt im Unterricht verächtlich zu hören, er „verehre Gott mehr als Ernst Thälmann“. Subtext: Wie falsch ist das denn? Jonas‘ Vater ist unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen, was den Wunsch seiner Witwe bestärkt, gemeinsam mit dem Sohn die DDR zu verlassen. Sie stellt einen Ausreiseantrag. Der Vorgang wird zur Belastungsprobe für Jonas und seinen besten Freund Fred. Freds Vater arbeitet bei den Grenztruppen. Er ist nicht übertrieben regimetreu, schaut Westfernsehen und luchst Transitbesuchern Westwaren ab, aber er ist angepasst genug, seinem Sohn den Umgang mit Jonas zu verbieten. Fred denkt nicht daran.

„In Gedanken kann man überall hinreisen.“ Die tröstenden Worte des Nachbarn Kaczmareck muntern den Jungen nicht nur auf, sie bringen ihn auf eine Idee: Wenn er auf dem Gelände der leerstehenden Fabrik im Grenzgebiet nur tief genug in den hellen, feinen märkischen Zuckersand gräbt, müsste ihn der entstehende Tunnel nicht auf die gegenüberliegende Seite der Erde führen? Down Under? Australien ist ein freies Land, für Jonas vom Westen aus gut erreichbar. Dort, versprechen sich die Jungen, sehen sie sich wieder.

Jonas (Valentin Wessely, links) und Fred (Tilman Döbler) nehmen Kurs auf Australien. Foto: BR
Dirk Kummer

„Zuckersand“, der Spielfilm auf dessen Drehbuch das Buch „Alles nur aus Zuckersand“ basiert, brachte Dirk Kummer 2018 den Deutschen Fernsehpreis ein. Wie die beiden Jungs, an deren Fersen er klar und aufrichtig den Kamerablick heftet, ist der Regisseur mit der Grenze im Rücken aufgewachsen. Dirk Kummer war 1979, zum Zeitpunkt der Handlung, nur unwesentlich älter als Jonas und Fred, 13. Dass er den Film wie auch das Buch in die ihm vertraute Umgebung einpasst, macht beides sehr authentisch. Jonas und seine Mutter dürfen ausreisen, eine bedrückende aber nicht minder realistische Erfahrung. Fred bleibt zurück, mit Jonas Fahrrad und dem festen Vorhaben, es bis nach Australien zu schaffen. Wenn nicht per Tunnel, dann als Sportler mit der Olympia-Mannschaft der DDR.

Das Hörbuch (Hörprobe) wird glanzvoll von Charly Hübner gelesen.

Dirk Kummer: Alles nur aus Zuckersand. Carlsen, 144 Seiten gebunden, 12 Euro. Ab 10 Jahre.

 

Frei nach einer wahren Geschichte

Die Stimmung in den Wochen vor dem Mauerfall ist angespannt. Niemand weiß, ob die friedlichen Proteste der DDR-Bürger friedlich bleiben – und ob Sicherheitskräfte ihrerseits Ruhe bewahren, statt zu den Waffen zu greifen. Schließlich wird die friedliche Revolution ihrem Namen gerecht, was aus heutiger Sicht bisweilen sogar als Wunder bezeichnet wird. Das hat auch den aus Stuttgart stammenden Kinderbuchautor Norbert Zähringer beschäftigt, der 1989 zwar schon erwachsen war und das Ereignis am TV-Bildschirm mitverfolgt haben dürfte, seinen Kindern nun aber gleichermaßen das Unvorstellbare erklären muss.

Zähringer beweist Mut zum Absurden – mit seinem Buch „Zorro Vela“, einem Märchen aus dem Kalten Krieg, frei nach der wahren Geschichte. Ein Außerirdischer der Spezies Onari wird zur Erde geschickt, um sie vor dem Untergang zu bewahren, die ein Krieg anstelle der Friedlichen Revolution bedeutet hätte. Getarnt als Comicheld Zorro landet er in einem Dorf in Südthüringen, das die Grenze nach Bayern mittig teilt. Unterstützt von vier Kindern, zwei aus dem Osten, zwei aus dem Westen, einer Schildkröte, magischen Brillen, futuristischen Fernbedienungen und einer ordentlichen Portion Magie, ist der Kalte Krieg bald Geschichte. Der Alltag im geteilten Deutschland wird hie und da angerissen. Den Schwerpunkt legt die muntere Erzählung mit ihrem wunderbar getroffenen Alien-Helden aber nicht auf Historisches, sondern auf das Abenteuer der Kinder, die sich, ehe überhaupt eine Grenze aufgeht, längst als Team Einheit verstehen. Eine authentische Erzählung über das Ende der deutsch-deutschen Teilung erwartet man besser nicht, ansonsten ist der Lesespaß garantiert! Besonders, wenn Zorro am Ende noch einmal zum Gestaltwandler wird und in eine ganz besondere Rolle schlüpft! Kleine Irritation im schönen Titelbild von Zeichner Maximilian Meinzold: Es zeigt die Silhouette Berlins. Dort spielt das Buch gar nicht. Was ihm keineswegs schadet.

Norbert Zähringer: Zorro Vela. Ein Märchen aus dem Kalten Krieg. Thienemann, 336 Seiten gebunden, 15 Euro. Ab 10 Jahre

 

 

Ein halber Sommer

Frühling 1961 in Berlin, dessen Teilung zwar sichtbar, aber noch nicht zementiert ist. Im Ost-Teil der Stadt macht Marie ihre Ausbildung zur Kostümschneiderin, kümmert sich liebevoll um ihren jüngeren Bruder Ecki und erträgt nachsichtig die regimetreue Haltung ihres Vaters. Sie selbst kann der DDR nichts abgewinnen. Sobald Marie Ecki zum Fußballspielen in den West-Teil der Stadt begleitet, stellt sie sich vor, dortzubleiben. Ihren Bruder und ihren Vater im Stich zu lassen, bringt die 17-Jährige aber nicht fertig.
Dann begegnet Marie der unwesentlich jüngeren Helene, genannt Lennie. Sie lebt im Westteil Berlins und pendelt wiederum in den Osten, um bei ihrer Tante Ilse in Prenzlauer Berg das Handwerk der Uhrmacherin lernen. Auch Lennie hat nur einen Elternteil, ihre Mutter. Der Vater ist im Krieg geblieben. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die vor der Wahrheit die Augen verschließt, hat sich Lennie damit abgefunden und sucht sogar nach einem Hinweis, mit dem der Tod des Vaters endgültig wird und die Familie zur Ruhe kommen kann. Ihn findet sie auch. Er ist konstruiert, ihn braucht es aber, um eine Brücke in die Zukunft zu bauen.

Marie und Lennie sind von der ersten Begegnung an füreinander entflammt und kommen sich schnell näher. Vor allem Marie bringt ihre Gefühle und Bedürfnisse selbstbewusst zum Ausdruck, was der eher zurückhaltenden Lennie, die noch im Begriff ist, ihre Rolle zu finden, den Atem nimmt. Beider Liebesgeschichte über die Grenze hinweg erzählt Autorin Maike Stein sehr gefühlvoll und authentisch, deshalb, weil sie sich direkt festlegt, nahe an den Figuren zu bleiben, statt auch noch der historischen Exaktheit gerecht zu werden. Die schriftstellerische Freiheit sei ihr gestattet, dadurch gewinnt der Roman sofort Profil und oszilliert nicht zwischen den Genres. Marie und Lennie erleben alles Wechselbad der Gefühle, das die erste große Liebe – geschrieben wie real – bereithält. Ihr Lebensalltag bringt es mit sich, dass sie ihre gegenseitige Zuneigung zunächst nicht offen nach außen tragen und auch vor ihren Familien verbergen müssen. Umso verblüffender, wie gut sich beide Eltern am Schluss damit arrangiert haben. Gut getroffen ist der Erzählton, leicht und lyrisch. Nur, dass Stein ihre Marie enorm berlinern lässt, wirkt ein wenig aufgesetzt.

Mit dem Mauerbau wird insbesondere Marie auf die Probe gestellt: Gehen oder bleiben. Sie entscheidet sich für einen riskanten Fluchtversuch, der scheitert. Und plötzlich ist es Lennie, von der die Kraft und die Dynamik der Geschichte ausgehen.

Einprägsam und trotzdem leicht wegzulesen ist dieser Roman, der lediglich eine Frage aufwirft: Dass sich zwei junge Frauen im Berlin vor rund 60 Jahren so zügig ihrer Gefühle füreinander bewusst werden, ohne sich zu hinterfragen – ist das realistisch?

Als Bonus gibt es das schöne Titelbild von Carina Crenshaw: Es zeigt ein Mauer-Graffiti zwei sich küssender Frauen, vom Motiv dem „Bruderkuss“ an der East Side Gallery nachempfunden.

Maike Stein: Ein halber Sommer. Oetinger, 272 Seiten gebunden, 19 Euro, als E-Book 12,99 Euro. Ab 14 Jahre.

Todesstreifen

Ben und Marc sehen sich zum Verwechseln ähnlich und sind zunächst sprachlos, als sie einander gegenüberstehen. Ben sagt nichts, weil er einen Knebel im Mund hat. Marc hat Ben gekidnappt, damit er mit dessen Pass in den Westen abhauen kann.

Es ist das Jahr 1985, Berlin durch die Mauer geteilt. Marc, der Ost-Berliner Junge, hat Ärger, weil er sich im Unterricht kritisch äußert. Die DDR, findet er, sei ein Unrechtsstaat. „Wer diskutiert, ist ein Schädling“, entgegnet sein Lehrer und droht, ihn ins Heim zu stecken. Ben, der Junge aus dem Westen, der als Gast-Leichtathlet mit einer Sportlergruppe an Jugendspielen in Ost-Berlin teilnimmt, fällt aus allen Wolken, als ihm Marc den Pass wegnimmt. Er wolle nur solange im Westen bleiben, verspricht Marc, bis er seine Mutter gefunden hat. Die war aus der DDR geflohen, als Marc fünf Jahre alt war. Seitdem lebt der Junge bei seiner Oma.

Die pfiffige Großmutter merkt sofort, dass sie nicht ihren Enkel vor sich hat, als der Junge nach Hause kommt. Ben berichtet ihr alles. Sie will ihm helfen. Doch schnell wird klar, dass die einfache Logik der Jungen zum Scheitern verurteilt ist. Die Grenze ist streng bewacht, die Polizei hält Ben für Marc, und selbst als Bens bester Kumpel Andreas den Pass über die Grenze schmuggelt und Ben in Ost-Berlin trifft, geht die Rechnung nicht auf – denn es fehlt der zugehörige Passierschein. Zurück in den Westen aber darf Ben nur mit beidem. Was bleibt, ist die Flucht über den Todesstreifen. Kleine Ungereimtheiten in der Handlung sind diesem spannenden Mauer-Krimi zu verzeihen. Das Ende kommt unerwartet und ein bisschen gewollt, trotzdem: Klare Leseempfehlung!

Helen Endemann: Todesstreifen. Rowohlt, 256 Seiten broschiert, 14 Euro, als E-Book 9,99 Euro. Ab 13 Jahre.

Grenzgänger

Grenzgänger hießen bis zum Sommer 1961, ehe die Mauer gebaut wurde, Menschen, die täglich von Ost- nach West-Berlin pendelten, etwa zwischen ihrer Wohnung und ihrer Arbeitsstelle. So wie Julian. Er hat einen weiteren Grund: Seine Freundin Heike lebt im Westen. Das Glück gerät zum Drama, als die Teilung kommt. Die Mauer trennt auch Julian und Heike. Zuvor war die Grenze zwischen West- und Ost-Berlin zwar gezogen, aber durchlässig gewesen. Weil mehr und mehr Menschen aus Ost-Berlin und der DDR beschließen, im Westen zu bleiben und dazu den Weg über West-Berlin wählen, greift der Staat hart durch. Er riegelt das Land ab. Nach dem Mauerbau bekommt Julian im Osten die Härte der DDR zu spüren. Er findet keine Arbeit, er ist stigmatisiert. Er will nur noch weg. Der einzige Weg ist nun eine riskante Flucht. Sie gelingt ihm, fordert aber zwei Generationen lang Opfer in Julians Familie. Damit sind nicht nur Druck und gesellschaftliche Ausgrenzung gemeint, die Teilung fordert auch Menschenleben aus den Reihen der Niemöllers. Erst Julians jüngste Cousine Sybille wird Freiheit erfahren. Als am 9. November 1989, nach 28 Jahren, die Mauer „fällt”, ist die 19-Jährige mittendrin.

Die Niederländerin Aline Sax ist eine Nachgeborene, sie kennt die DDR nur aus Geschichten. Diesen hat sie teils fasziniert, teils beklommen gelauscht, und die dramatischen Schicksale der Menschen im Osten ließen sie nicht mehr los. Mit viel Einfühlungsvermögen erzählt Sax drei Lebensläufe in einer DDR-Familie, stimmig und gut nachvollziehbar. Der Roman weckt hohe Erwartungen, denen er größtenteils mehr als gerecht wird. Einzig stört, dass weder Julians Schicksal im ersten Drittel des Buches noch das seiner Nichte Marthe im zweiten ganz aufgeklärt werden. Das Wissen, dass beide überleben, stellt den Leser nicht zufrieden.

Aline Sax: Grenzgänger. Urachhaus, 490 Seiten gebunden, 19 Euro. Ab 14 Jahre.

Die Zwei von der Tankstelle

Diejenigen, die sich bewusst an den Mauerfall erinnern, sprechen von einer Aufbruchstimmung, die damals alle erfasst hat. Es wirkt, als erfahre der 9. November 1989 seine wahre Bedeutung erst durch diesen Geist. „Schönefeld hätte sich ohne die Wende völlig anders entwickelt“, sagt auch Olaf Damm, Kommunalpolitiker in der Gemeinde im Süden Berlins. Und er selbst? Tatsächlich war es eine Ost-West-Begegnung, die Damm im Sommer 1990 geprägt und inspiriert hat. „Die Zwei von der Tankstelle“, zwei Männer im badischen Heidelberg, gaben dem damals 26-Jährigen einen wertvollen Ratschlag.

 

Als sich der hochgewachsene junge Mann als Rathauschef der seinerzeit noch eigenständigen 900-Einwohner-Gemeinde Waltersdorf, heute einem Schönefelder Ortsteil, zum ersten Mal in Westdeutschland vorstellt, ist sein Gegenüber kurz sprachlos. Der Mechaniker, der Damms Auto, einen Wartburg, repariert hatte, fragt halb belustigt, halb beeindruckt: „Ein Bürgermeister, aufgestellt von der Feuerwehr statt von einer Partei?“

„Wo gibt‘s denn sowas? Bist du aus dem Osten?“

Der Mann hatte sich bei dem berlinernden Touristen, der ihm hilfesuchend den abgebrochenen Schalthebel seines Wagens gezeigt hatte, erkundigt, was dieser beruflich mache. „Gelernt habe ich Landwirt“, erwiderte Olaf Damm und fügte nach kurzem Zögern hinzu, „jetzt bin ich Bürgermeister. In Brandenburg.“

Olaf Damm als junger, zupackender Kommunalpolitiker im Wendejahr.

Die beherzte Reaktion nahm ihm eine Last von den Schultern, die sich mit der Rolle des Neuankömmlings verband. „Ich war Bittsteller. Ich hatte kein Geld, der Tankwart hätte mich auch wegschicken können mit meinem primitiven Wagen.“ Stattdessen habe er den Mechaniker geholt, „der lachte, weil mein Kofferraum voller Benzinkanister war. Aber ich konnte im Westen nicht tanken mit einem Zweitakter. Die Begegnung hat mich an den Osten erinnert, wo man immer Leute kennen musste, die geholfen haben.“ Geduld, Improvisation und ein freundliches Gespräch bringen Ost und West, oder: Süd, an diesem Tag zusammen. Die Reparatur geht aufs Haus. Was Olaf Damm außerdem für sich mitnimmt, ist:

„Man muss jeden so behandeln, wie man selbst behandelt werden will.“

Dieses Gespür zu wahren, sei in der Politik nicht einfach. Die Erinnerung an die Aufbruchstimmung helfe ihm dabei.

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Die Zwei von der Tankstelle waren Gerald Thiele und Rudi Staudt. Die Männer, der eine Kurpfälzer, der andere gebürtiger Schwabe, aber seit langem in Heidelberg heimisch, erkannten sich wieder. Rudi Staudt hatte den hellblauen Wagen zusammengeschweißt, Tankwart Gerald Thiele assistierte bei der „Operation Wartburgrettung“. Die Tankstelle, die Olaf Damm mit dem lädierten Pkw angesteuert hatte, war in Heidelberg-Handschuhsheim. Vor fünf Jahren wurde sie geschlossen und wich einer Wohnbebauung. Nach alten Fotos „seiner“ BFT-Tankstelle hat Rudi Staudt aber erfolgreich gestöbert.

Der Bär aus der Botschaft

Könnte er sprechen, wäre das Rätsel seiner Herkunft schnell gelöst. Dann würde der Teddy erzählen, wem er gehörte, wie er in dem Bundeswehr-Mannschaftszelt im Garten der Deutschen Botschaft in Prag landete – und warum er vor 30 Jahren dort vergessen wurde. Letzteres kann sich Christian Seebode zusammenreimen, der ihn gefunden hat: „Die Menschen mussten überstürzt aufbrechen, die Busse, die sie zum Bahnhof brachten, kamen am frühen Morgen. Kinder wurden von den Eltern aus dem Schlaf gerissen, vermutlich hat eins in der Aufregung seinen Teddy liegenlassen.“

Einen Jungen oder ein Mädchen „zwischen fünf und sieben Jahren“ hat der damalige Botschaftsmitarbeiter vor Augen. Das Kind, „inzwischen dürfte es Mitte 30 sein und hat vielleicht selbst Familie“, will Christian Seebode finden. Am 9. November jährt sich der Fall der Berliner Mauer zum 30. Mal, mit dem auch die Geschichte des Bären aus der Botschaft zusammenhängt. Sie passierte ein paar Wochen zuvor.

Sein Fell ist weiß und flauschig, es gibt keine abgewetzten Stellen. Sein Besitzer hatte ihn möglicherweise noch nicht lange. Allerdings lässt sich das Wäscheetikett des 38 Zentimeter großen Bären nicht mehr entziffern, es ist verblasst. Erkennbar ist lediglich die Angabe, dass sich das Stofftier bei einer Temperatur von 30 Grad waschen lässt. Christian Seebode hat im Internet „Geschwister“ gesucht, stieß auf die DDR-Spielzeugherstellung in Thüringen, fand aber nirgends Hinweise auf entsprechende Bären. Der Teddy hat Kunststoffaugen und eine gestickte Nase aus brauner Wolle.

„Ich tippe, er gehörte einem Jungen. Ein Mädchen hätte ihm Kleidung zum Anziehen gegeben.“

Die hatte der Bär nicht.
Am Morgen des 1. Oktober 1989 verließen 5 000 Menschen das Gelände der Deutschen
Botschaft in Prag. So voll war es nie zuvor und ist es auch seitdem nicht mehr gewesen.
Die Ausnahmesituation ergab sich, weil in den zurückliegenden Monaten immer mehr
DDR-Bürger ins Nachbarland Tschechoslowakei (heute Tschechien) geflohen waren.
Mit dem Auto, das sie irgendwo in der Stadt abstellten und „machs gut“  auf die Heckscheibe schrieben, oder mit der Bahn. Von Dresden sind es nur zwei Zugstunden nach Prag.

Aus welcher Stadt oder Region Ostdeutschlands die Familie des Teddys kam, weiß Finder Seebode nicht. „Es gab schon einzelne Personen, an die ich mich erinnere, aber ein Kind mit so einem Bären fiel mir nicht auf.“ Am 30. September 1989 hielt Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher eine Rede auf dem Balkon der Botschaft. Im Hof lauschten die Menschen mucksmäuschenstill, bis zum Moment, da Genscher ihre Ausreise bestätigte. Dann jubelten sie. In zehn Sonderzügen wurden sie von Prag über das Gebiet der DDR ins fränkische, westdeutsche Hof gebracht. Die Busse, die sie zum Bahnhof fuhren, kamen dann so prompt, dass vielen keine Zeit zum Packen blieb – wie den Eltern des Kindes, dem der Teddy gehörte.

Christian Seebode entdeckte ihn auf einem Feldbett in einem zurückgeschlagenen Schlafsack, als er mit seinen Kollegen ans Aufräumen ging. Auch weil das Kind ein Einzelbett hatte, geht er davon aus, „es war kein Kleinkind mehr, sondern im Grundschulalter“.
Was, wenn es sich nicht an den Spielgefährten erinnern kann?
„Dann erinnern sich die Eltern und melden sich“, hofft der frühere Diplomat, der seit seiner Pensionierung in Berlin lebt. Deshalb, ergänzt er, habe er den Bären damals an sich genommen: „Falls er vermisst wird. Dann hätte ich ihn zurückgebracht.“ Niemand in der Familie Seebode gab ihm einen Namen, „weil er sicher schon einen hat.“  Vielleicht kommt er nun ans Licht.

„Ich übergebe den Teddy persönlich“, hat sich Christian Seebode vorgenommen.

Unter den Hinweisen, die ihn bislang erreichten, war noch nicht der entscheidende Treffer. Gleichwohl gab es wertvolle Tipps. Ein Mann aus dem Badischen schrieb, er habe seinen Kindern Weihnachten 1988 „baugleiche“ Bären unter den Christbaum gelegt und diese zuvor bei Karstadt gekauft, allerdings mit Schal und Mütze. Die fehlen dem Prager Teddy. Eine Frau aus Sachsen äußerte, sie bezweifle, dass der Bär ein in der DDR gefertigtes Spielzeug gewesen sei, dass Wäscheetikett sei aus hellem Nylon – untypisch. Eine Zuschrift aus Thüringen gab zu bedenken, „dass im Osten produzierte Spielwaren häufig als Devisen in den Westen verkauft wurden und es gang und gäbe gewesen sei, Plüschtiere dort dann mit entsprechenden „West-Etiketten“ zu versehen“.
Dass der Prager Teddy als West-Spielzeugspende in der Botschaft landete, schließt Christian Seebode aus. „An Spenden bekamen wir nur Kinderbücher. Der Bär ist mitgebracht worden.“

Fotos: privat