Alles nur aus Zuckersand

Falkensee an der Grenze zu Berlin-Spandau zählt heute zu den beliebtesten Wohnorten im so genannten Brandenburger „Speckgürtel“ der Hauptstadt. Eine Entwicklung, welche die Stadt ohne den Mauerfall nicht genommen hätte. Während der deutsch-deutschen Teilung war Falkensee Grenz- und Sperrgebiet, nach West-Berlin waren es nur ein paar Schritte, ein Trampelpfad, der über Freiheit und „Gefangenschaft“ entschied.

Jonas‘ Mutter ist das DDR-System leid. Sie gehört der Kirche an. Ihr Sohn bekommt im Unterricht verächtlich zu hören, er „verehre Gott mehr als Ernst Thälmann“. Subtext: Wie falsch ist das denn? Jonas‘ Vater ist unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen, was den Wunsch seiner Witwe bestärkt, gemeinsam mit dem Sohn die DDR zu verlassen. Sie stellt einen Ausreiseantrag. Der Vorgang wird zur Belastungsprobe für Jonas und seinen besten Freund Fred. Freds Vater arbeitet bei den Grenztruppen. Er ist nicht übertrieben regimetreu, schaut Westfernsehen und luchst Transitbesuchern Westwaren ab, aber er ist angepasst genug, seinem Sohn den Umgang mit Jonas zu verbieten. Fred denkt nicht daran.

„In Gedanken kann man überall hinreisen.“ Die tröstenden Worte des Nachbarn Kaczmareck muntern den Jungen nicht nur auf, sie bringen ihn auf eine Idee: Wenn er auf dem Gelände der leerstehenden Fabrik im Grenzgebiet nur tief genug in den hellen, feinen märkischen Zuckersand gräbt, müsste ihn der entstehende Tunnel nicht auf die gegenüberliegende Seite der Erde führen? Down Under? Australien ist ein freies Land, für Jonas vom Westen aus gut erreichbar. Dort, versprechen sich die Jungen, sehen sie sich wieder.

Jonas (Valentin Wessely, links) und Fred (Tilman Döbler) nehmen Kurs auf Australien. Foto: BR
Dirk Kummer

„Zuckersand“, der Spielfilm auf dessen Drehbuch das Buch „Alles nur aus Zuckersand“ basiert, brachte Dirk Kummer 2018 den Deutschen Fernsehpreis ein. Wie die beiden Jungs, an deren Fersen er klar und aufrichtig den Kamerablick heftet, ist der Regisseur mit der Grenze im Rücken aufgewachsen. Dirk Kummer war 1979, zum Zeitpunkt der Handlung, nur unwesentlich älter als Jonas und Fred, 13. Dass er den Film wie auch das Buch in die ihm vertraute Umgebung einpasst, macht beides sehr authentisch. Jonas und seine Mutter dürfen ausreisen, eine bedrückende aber nicht minder realistische Erfahrung. Fred bleibt zurück, mit Jonas Fahrrad und dem festen Vorhaben, es bis nach Australien zu schaffen. Wenn nicht per Tunnel, dann als Sportler mit der Olympia-Mannschaft der DDR.

Das Hörbuch (Hörprobe) wird glanzvoll von Charly Hübner gelesen.

Dirk Kummer: Alles nur aus Zuckersand. Carlsen, 144 Seiten gebunden, 12 Euro. Ab 10 Jahre.

 

Der Bär aus der Botschaft

Könnte er sprechen, wäre das Rätsel seiner Herkunft schnell gelöst. Dann würde der Teddy erzählen, wem er gehörte, wie er in dem Bundeswehr-Mannschaftszelt im Garten der Deutschen Botschaft in Prag landete – und warum er vor 30 Jahren dort vergessen wurde. Letzteres kann sich Christian Seebode zusammenreimen, der ihn gefunden hat: „Die Menschen mussten überstürzt aufbrechen, die Busse, die sie zum Bahnhof brachten, kamen am frühen Morgen. Kinder wurden von den Eltern aus dem Schlaf gerissen, vermutlich hat eins in der Aufregung seinen Teddy liegenlassen.“

Einen Jungen oder ein Mädchen „zwischen fünf und sieben Jahren“ hat der damalige Botschaftsmitarbeiter vor Augen. Das Kind, „inzwischen dürfte es Mitte 30 sein und hat vielleicht selbst Familie“, will Christian Seebode finden. Am 9. November jährt sich der Fall der Berliner Mauer zum 30. Mal, mit dem auch die Geschichte des Bären aus der Botschaft zusammenhängt. Sie passierte ein paar Wochen zuvor.

Sein Fell ist weiß und flauschig, es gibt keine abgewetzten Stellen. Sein Besitzer hatte ihn möglicherweise noch nicht lange. Allerdings lässt sich das Wäscheetikett des 38 Zentimeter großen Bären nicht mehr entziffern, es ist verblasst. Erkennbar ist lediglich die Angabe, dass sich das Stofftier bei einer Temperatur von 30 Grad waschen lässt. Christian Seebode hat im Internet „Geschwister“ gesucht, stieß auf die DDR-Spielzeugherstellung in Thüringen, fand aber nirgends Hinweise auf entsprechende Bären. Der Teddy hat Kunststoffaugen und eine gestickte Nase aus brauner Wolle.

„Ich tippe, er gehörte einem Jungen. Ein Mädchen hätte ihm Kleidung zum Anziehen gegeben.“

Die hatte der Bär nicht.
Am Morgen des 1. Oktober 1989 verließen 5 000 Menschen das Gelände der Deutschen
Botschaft in Prag. So voll war es nie zuvor und ist es auch seitdem nicht mehr gewesen.
Die Ausnahmesituation ergab sich, weil in den zurückliegenden Monaten immer mehr
DDR-Bürger ins Nachbarland Tschechoslowakei (heute Tschechien) geflohen waren.
Mit dem Auto, das sie irgendwo in der Stadt abstellten und „machs gut“  auf die Heckscheibe schrieben, oder mit der Bahn. Von Dresden sind es nur zwei Zugstunden nach Prag.

Aus welcher Stadt oder Region Ostdeutschlands die Familie des Teddys kam, weiß Finder Seebode nicht. „Es gab schon einzelne Personen, an die ich mich erinnere, aber ein Kind mit so einem Bären fiel mir nicht auf.“ Am 30. September 1989 hielt Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher eine Rede auf dem Balkon der Botschaft. Im Hof lauschten die Menschen mucksmäuschenstill, bis zum Moment, da Genscher ihre Ausreise bestätigte. Dann jubelten sie. In zehn Sonderzügen wurden sie von Prag über das Gebiet der DDR ins fränkische, westdeutsche Hof gebracht. Die Busse, die sie zum Bahnhof fuhren, kamen dann so prompt, dass vielen keine Zeit zum Packen blieb – wie den Eltern des Kindes, dem der Teddy gehörte.

Christian Seebode entdeckte ihn auf einem Feldbett in einem zurückgeschlagenen Schlafsack, als er mit seinen Kollegen ans Aufräumen ging. Auch weil das Kind ein Einzelbett hatte, geht er davon aus, „es war kein Kleinkind mehr, sondern im Grundschulalter“.
Was, wenn es sich nicht an den Spielgefährten erinnern kann?
„Dann erinnern sich die Eltern und melden sich“, hofft der frühere Diplomat, der seit seiner Pensionierung in Berlin lebt. Deshalb, ergänzt er, habe er den Bären damals an sich genommen: „Falls er vermisst wird. Dann hätte ich ihn zurückgebracht.“ Niemand in der Familie Seebode gab ihm einen Namen, „weil er sicher schon einen hat.“  Vielleicht kommt er nun ans Licht.

„Ich übergebe den Teddy persönlich“, hat sich Christian Seebode vorgenommen.

Unter den Hinweisen, die ihn bislang erreichten, war noch nicht der entscheidende Treffer. Gleichwohl gab es wertvolle Tipps. Ein Mann aus dem Badischen schrieb, er habe seinen Kindern Weihnachten 1988 „baugleiche“ Bären unter den Christbaum gelegt und diese zuvor bei Karstadt gekauft, allerdings mit Schal und Mütze. Die fehlen dem Prager Teddy. Eine Frau aus Sachsen äußerte, sie bezweifle, dass der Bär ein in der DDR gefertigtes Spielzeug gewesen sei, dass Wäscheetikett sei aus hellem Nylon – untypisch. Eine Zuschrift aus Thüringen gab zu bedenken, „dass im Osten produzierte Spielwaren häufig als Devisen in den Westen verkauft wurden und es gang und gäbe gewesen sei, Plüschtiere dort dann mit entsprechenden „West-Etiketten“ zu versehen“.
Dass der Prager Teddy als West-Spielzeugspende in der Botschaft landete, schließt Christian Seebode aus. „An Spenden bekamen wir nur Kinderbücher. Der Bär ist mitgebracht worden.“

Fotos: privat