Der Nachwendige

Den Mauerfall ausblenden, stattdessen die Wendezeit einfangen, dafür gibt Gregor Sander die Regieanweisung in seinem jüngsten Roman „Alles richtig gemacht“. Ein gutes Omen, dass er den Titel als Aussage stehenlässt. Ob der Funkenflug der Wunderkerzen auf dem Cover Hoffnung anzeigt oder Trotz, reflektiert das literarische Brennglas je nach Lichteinfall.

Thomas Piepenburg ist ein Wendegewinner. Dem 19-Jährigen bescheren das Ende der DDR und die Wiedervereinigung die frühzeitige Entpflichtung aus der Armee und ein Füllhorn an Möglichkeiten. Zurückhaltend und korrekt wie ihn seine mecklenburgisch-hanseatischen Eltern erzogen haben, lässt er sich nicht auf den Lockruf des Westens ein, kehrt lediglich der Familienvilla und der in dritter Generation geführten Drogerie den Rücken, und zieht zu seinem Kumpel Daniel in eine Rostocker Abbruchhaus-WG. Seine Ausbildung macht Thomas in der Kaufhalle, die jetzt Discounter heißt aber nicht abgewickelt wird, denn „eingekauft wird immer“.

Die Geschichte bewegt sich zwischen den 1990er Jahren und heute und wird von Thomas erzählt, inzwischen als Anwalt erfolgreich, dafür mit einem Familienleben auf Talfahrt. Was beweist, wie angekommen der knapp Fünfzigjährige im geeinten Deutschland ist: Der Job ist so raumgreifend geworden, dass seine Frau und die beiden Töchter dahinter verschwinden. Eines Tages tun sie das real. Thomas bleibt zurück, saturiert und handlungsunfähig. Damit dieser Zustand nicht die Romanhandlung zum Erliegen bringt, flicht Gregor Sander in klugen, launigen Rückblenden ein, wie seine Protagonisten erst das Ende der DDR, dann den gesamtdeutschen Aufbruch erleben. Die Freundschaft zeigt, welche unterschiedlichen Lebensentwürfe die 1990er Jahre zuließen. Der Autor, Jg. 1968, in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen, sagt selbst, die Party sei gut gewesen. Der Beitritt der ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik gestaltete sich schwieriger.

Es ist Aufgabe seiner Generation, genau diesen Prozess zu spiegeln.

Daniel erliegt den Versuchungen des Westens mehrfach. Er nimmt Drogen, prügelt sich, lässt sich auf riskante Geschäfte ein und auf die falschen Frauen. Seinen Traum, zur See zu fahren, muss er aufstecken. Daniel scheint er das schlechtere Los gezogen zu haben. Der Eindruck dreht sich kurz vor dem (etwas zu erwartbaren) Finale endgültig. „Alles richtig gemacht“ hat allein Thomas – das wäre zu einfach.

Der Roman ist Milieustudie, Generationenporträt und Warnung gleichermaßen. Eine Würdigung verdienen die (Neben-)Schauplätze und ihre Figuren, die so stimmig erzählt sind, dass die Fünfzigjährigen sagen: „Ja, so war es“, die Wende-Nachgeborenen wiederum: „So wird es gewesen sein.“ Die Anstrengung, sich neu zu erfinden, zeichnet sich ab, wenn Thomas‘ oder Daniels Mutter vorbeischaut. Jede hat ihren Platz gefunden und wünscht dem Sohn, dass er das auch schafft. Der Respekt, den ihnen die Geschichte dafür zollt, ist verdient.

Die Pathologie Berlins, die Kulisse der neuen Hauptstadt, in der Gentrifizierung drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall alle Aufbrüche verdaut hat, regt zum Nachdenken an. „Warum zieht man nach Berlin-Mitte, um zu leben wie am Stadtrand von Hannover?“, fragt sich Thomas, als die Sprache auf ein leerstehendes Atelier in einem Hinterhof im Prenzlauer Berg kommt, das einem Town-House gewichen ist. Der Leser schmunzelt – und weiß auch keine Antwort.

Als Romancier der Wende gilt Thomas Brussig. Gregor Sander wäre so gesehen der Nachwedige.

Gregor Sander: Alles richtig gemacht. Penguin, 240 Seiten, 20 Euro.

 

 

 

 

 

 

Ein halber Sommer

Frühling 1961 in Berlin, dessen Teilung zwar sichtbar, aber noch nicht zementiert ist. Im Ost-Teil der Stadt macht Marie ihre Ausbildung zur Kostümschneiderin, kümmert sich liebevoll um ihren jüngeren Bruder Ecki und erträgt nachsichtig die regimetreue Haltung ihres Vaters. Sie selbst kann der DDR nichts abgewinnen. Sobald Marie Ecki zum Fußballspielen in den West-Teil der Stadt begleitet, stellt sie sich vor, dortzubleiben. Ihren Bruder und ihren Vater im Stich zu lassen, bringt die 17-Jährige aber nicht fertig.
Dann begegnet Marie der unwesentlich jüngeren Helene, genannt Lennie. Sie lebt im Westteil Berlins und pendelt wiederum in den Osten, um bei ihrer Tante Ilse in Prenzlauer Berg das Handwerk der Uhrmacherin lernen. Auch Lennie hat nur einen Elternteil, ihre Mutter. Der Vater ist im Krieg geblieben. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, die vor der Wahrheit die Augen verschließt, hat sich Lennie damit abgefunden und sucht sogar nach einem Hinweis, mit dem der Tod des Vaters endgültig wird und die Familie zur Ruhe kommen kann. Ihn findet sie auch. Er ist konstruiert, ihn braucht es aber, um eine Brücke in die Zukunft zu bauen.

Marie und Lennie sind von der ersten Begegnung an füreinander entflammt und kommen sich schnell näher. Vor allem Marie bringt ihre Gefühle und Bedürfnisse selbstbewusst zum Ausdruck, was der eher zurückhaltenden Lennie, die noch im Begriff ist, ihre Rolle zu finden, den Atem nimmt. Beider Liebesgeschichte über die Grenze hinweg erzählt Autorin Maike Stein sehr gefühlvoll und authentisch, deshalb, weil sie sich direkt festlegt, nahe an den Figuren zu bleiben, statt auch noch der historischen Exaktheit gerecht zu werden. Die schriftstellerische Freiheit sei ihr gestattet, dadurch gewinnt der Roman sofort Profil und oszilliert nicht zwischen den Genres. Marie und Lennie erleben alles Wechselbad der Gefühle, das die erste große Liebe – geschrieben wie real – bereithält. Ihr Lebensalltag bringt es mit sich, dass sie ihre gegenseitige Zuneigung zunächst nicht offen nach außen tragen und auch vor ihren Familien verbergen müssen. Umso verblüffender, wie gut sich beide Eltern am Schluss damit arrangiert haben. Gut getroffen ist der Erzählton, leicht und lyrisch. Nur, dass Stein ihre Marie enorm berlinern lässt, wirkt ein wenig aufgesetzt.

Mit dem Mauerbau wird insbesondere Marie auf die Probe gestellt: Gehen oder bleiben. Sie entscheidet sich für einen riskanten Fluchtversuch, der scheitert. Und plötzlich ist es Lennie, von der die Kraft und die Dynamik der Geschichte ausgehen.

Einprägsam und trotzdem leicht wegzulesen ist dieser Roman, der lediglich eine Frage aufwirft: Dass sich zwei junge Frauen im Berlin vor rund 60 Jahren so zügig ihrer Gefühle füreinander bewusst werden, ohne sich zu hinterfragen – ist das realistisch?

Als Bonus gibt es das schöne Titelbild von Carina Crenshaw: Es zeigt ein Mauer-Graffiti zwei sich küssender Frauen, vom Motiv dem „Bruderkuss“ an der East Side Gallery nachempfunden.

Maike Stein: Ein halber Sommer. Oetinger, 272 Seiten gebunden, 19 Euro, als E-Book 12,99 Euro. Ab 14 Jahre.