„Im Prinzip sind wir alle zuerst Menschen“, sagt Jürgen Kraetzig, als er darüber sinniert, warum die Unterschiede zwischen Ost und West drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer noch immer eine Rolle spielen – wenngleich in abnehmendem Maße. „Herkunft prägt das Verhalten, aber es kommt mehr auf die Familiensituation an als auf den Ort“, findet er. Und hat auch gleich ein Beispiel parat – seinen Nachbarn, Stefan Thomaschewski.
Als Student reist dieser junge Mann, ein Bonner, nach Ost-Berlin. Seine katholische Studierendengemeinde, abgekürzt: KSG, organisiert dort ein Zusammentreffen mit Studierenden der TU Chemnitz, ebenfalls aus deren Hochschulgemeinde. Stefan ist einer der 15 Teilnehmenden der westdeutschen Gruppe. Jürgen gehört zu den Teilnehmenden, die aus der DDR stammen. Das Bundesministerium des Inneren unterstützt die Begegnung als Teil des deutsch-deutschen Verständigungsprozesses. Es ist das Jahr 1980.
Es braucht keine lange Vorrede. Der Leipziger Jürgen Kraetzig, der Berufsschullehramt in Chemnitz studiert, und der angehende Mediziner Thomaschewski, sind sich sofort sympathisch. Sie stellen fest, dass sie dieselben Bücher gelesen haben, dass beide von fremden Kulturen und anderen Ländern fasziniert sind. Ihre eigenen Wurzeln empfinden sie nicht als gegensätzlich. „Wir stammen beide aus bodenständigen Elternhäusern“, erklärt Jürgen Kraetzig, dessen Vater Tischler war.

Die Besuche des Bonner Freundes in der DDR finden von nun an regelmäßig statt. 1987 darf wiederum Jürgen Kraetzig zu einem Westbesuch an den Rhein fahren. Mit Stefans Motorrad touren die Männer durchs Siegerland. Besonderer Hingucker: Der Feuerstuhl ist made in Sachsen, eine MZ aus dem Motorradwerk Zschopau im Erzgebirge, die er über den Versandhandel bezogen hat. Das eine oder andere fällige Ersatzteil beschafft der Freund aus der DDR, was diesen nachträglich noch schmunzeln lässt:
„Da konnte ich tatsächlich mal etwas besorgen, das es im Westen nicht gab.“
Als typisch ostdeutsch verortet er einen nachhaltigen Lebensstil. „Wir haben alles aufgehoben, alles repariert.“ Für den Westen sei eine stark individualisierte Lebensweise typisch gewesen.
Im November 1989, drei Wochen nach dem Mauerfall, kommt Stefan wieder nach Ost-Berlin. Beeindruckt vom historischen Moment, den die Freunde miterleben, beschließt der inzwischen examinierte Arzt: „Wenn die deutsche Einheit tatsächlich kommt, lasse ich mich im Osten nieder.“ Sie kommt. Er hält Wort.

1994 beziehen Stefan und Jürgen mit ihren Familien dieselbe Nachbarschaft in Potsdam. Ihre – 1980 begründete – Freundschaft ist älter als die Städtepartnerschaft zwischen Bonn und Potsdam. Sie gibt es „erst“ seit 1988.
Beider Begegnung war trotz der deutschen Teilung möglich gewesen, die Hochschulgemeinde schuf den Anlass. Was sie daraus gemacht haben, „vier Jahrzehnte friedliches Mit- und Nebeneinander“, so Jürgen Kraetzig, hätte sich ohne die Wende so nicht ergeben. Den Wert, den Bildung und Begegnung bedeuten, gibt er als Geschäftsführer einer Brandenburger Stiftung weiter. Sein Nachbar praktiziert an einer Klinik im Märkischen. Seine Tochter tritt in seine Fußstapfen – allerdings in Bonn.
Fotos: privat