Die Zwei von der Tankstelle

Diejenigen, die sich bewusst an den Mauerfall erinnern, sprechen von einer Aufbruchstimmung, die damals alle erfasst hat. Es wirkt, als erfahre der 9. November 1989 seine wahre Bedeutung erst durch diesen Geist. „Schönefeld hätte sich ohne die Wende völlig anders entwickelt“, sagt auch Olaf Damm, Kommunalpolitiker in der Gemeinde im Süden Berlins. Und er selbst? Tatsächlich war es eine Ost-West-Begegnung, die Damm im Sommer 1990 geprägt und inspiriert hat. „Die Zwei von der Tankstelle“, zwei Männer im badischen Heidelberg, gaben dem damals 26-Jährigen einen wertvollen Ratschlag.

 

Als sich der hochgewachsene junge Mann als Rathauschef der seinerzeit noch eigenständigen 900-Einwohner-Gemeinde Waltersdorf, heute einem Schönefelder Ortsteil, zum ersten Mal in Westdeutschland vorstellt, ist sein Gegenüber kurz sprachlos. Der Mechaniker, der Damms Auto, einen Wartburg, repariert hatte, fragt halb belustigt, halb beeindruckt: „Ein Bürgermeister, aufgestellt von der Feuerwehr statt von einer Partei?“

„Wo gibt‘s denn sowas? Bist du aus dem Osten?“

Der Mann hatte sich bei dem berlinernden Touristen, der ihm hilfesuchend den abgebrochenen Schalthebel seines Wagens gezeigt hatte, erkundigt, was dieser beruflich mache. „Gelernt habe ich Landwirt“, erwiderte Olaf Damm und fügte nach kurzem Zögern hinzu, „jetzt bin ich Bürgermeister. In Brandenburg.“

Olaf Damm als junger, zupackender Kommunalpolitiker im Wendejahr.

Die beherzte Reaktion nahm ihm eine Last von den Schultern, die sich mit der Rolle des Neuankömmlings verband. „Ich war Bittsteller. Ich hatte kein Geld, der Tankwart hätte mich auch wegschicken können mit meinem primitiven Wagen.“ Stattdessen habe er den Mechaniker geholt, „der lachte, weil mein Kofferraum voller Benzinkanister war. Aber ich konnte im Westen nicht tanken mit einem Zweitakter. Die Begegnung hat mich an den Osten erinnert, wo man immer Leute kennen musste, die geholfen haben.“ Geduld, Improvisation und ein freundliches Gespräch bringen Ost und West, oder: Süd, an diesem Tag zusammen. Die Reparatur geht aufs Haus. Was Olaf Damm außerdem für sich mitnimmt, ist:

„Man muss jeden so behandeln, wie man selbst behandelt werden will.“

Dieses Gespür zu wahren, sei in der Politik nicht einfach. Die Erinnerung an die Aufbruchstimmung helfe ihm dabei.

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Die Zwei von der Tankstelle waren Gerald Thiele und Rudi Staudt. Die Männer, der eine Kurpfälzer, der andere gebürtiger Schwabe, aber seit langem in Heidelberg heimisch, erkannten sich wieder. Rudi Staudt hatte den hellblauen Wagen zusammengeschweißt, Tankwart Gerald Thiele assistierte bei der „Operation Wartburgrettung“. Die Tankstelle, die Olaf Damm mit dem lädierten Pkw angesteuert hatte, war in Heidelberg-Handschuhsheim. Vor fünf Jahren wurde sie geschlossen und wich einer Wohnbebauung. Nach alten Fotos „seiner“ BFT-Tankstelle hat Rudi Staudt aber erfolgreich gestöbert.

Der Bär aus der Botschaft

Könnte er sprechen, wäre das Rätsel seiner Herkunft schnell gelöst. Dann würde der Teddy erzählen, wem er gehörte, wie er in dem Bundeswehr-Mannschaftszelt im Garten der Deutschen Botschaft in Prag landete – und warum er vor 30 Jahren dort vergessen wurde. Letzteres kann sich Christian Seebode zusammenreimen, der ihn gefunden hat: „Die Menschen mussten überstürzt aufbrechen, die Busse, die sie zum Bahnhof brachten, kamen am frühen Morgen. Kinder wurden von den Eltern aus dem Schlaf gerissen, vermutlich hat eins in der Aufregung seinen Teddy liegenlassen.“

Einen Jungen oder ein Mädchen „zwischen fünf und sieben Jahren“ hat der damalige Botschaftsmitarbeiter vor Augen. Das Kind, „inzwischen dürfte es Mitte 30 sein und hat vielleicht selbst Familie“, will Christian Seebode finden. Am 9. November jährt sich der Fall der Berliner Mauer zum 30. Mal, mit dem auch die Geschichte des Bären aus der Botschaft zusammenhängt. Sie passierte ein paar Wochen zuvor.

Sein Fell ist weiß und flauschig, es gibt keine abgewetzten Stellen. Sein Besitzer hatte ihn möglicherweise noch nicht lange. Allerdings lässt sich das Wäscheetikett des 38 Zentimeter großen Bären nicht mehr entziffern, es ist verblasst. Erkennbar ist lediglich die Angabe, dass sich das Stofftier bei einer Temperatur von 30 Grad waschen lässt. Christian Seebode hat im Internet „Geschwister“ gesucht, stieß auf die DDR-Spielzeugherstellung in Thüringen, fand aber nirgends Hinweise auf entsprechende Bären. Der Teddy hat Kunststoffaugen und eine gestickte Nase aus brauner Wolle.

„Ich tippe, er gehörte einem Jungen. Ein Mädchen hätte ihm Kleidung zum Anziehen gegeben.“

Die hatte der Bär nicht.
Am Morgen des 1. Oktober 1989 verließen 5 000 Menschen das Gelände der Deutschen
Botschaft in Prag. So voll war es nie zuvor und ist es auch seitdem nicht mehr gewesen.
Die Ausnahmesituation ergab sich, weil in den zurückliegenden Monaten immer mehr
DDR-Bürger ins Nachbarland Tschechoslowakei (heute Tschechien) geflohen waren.
Mit dem Auto, das sie irgendwo in der Stadt abstellten und „machs gut“  auf die Heckscheibe schrieben, oder mit der Bahn. Von Dresden sind es nur zwei Zugstunden nach Prag.

Aus welcher Stadt oder Region Ostdeutschlands die Familie des Teddys kam, weiß Finder Seebode nicht. „Es gab schon einzelne Personen, an die ich mich erinnere, aber ein Kind mit so einem Bären fiel mir nicht auf.“ Am 30. September 1989 hielt Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher eine Rede auf dem Balkon der Botschaft. Im Hof lauschten die Menschen mucksmäuschenstill, bis zum Moment, da Genscher ihre Ausreise bestätigte. Dann jubelten sie. In zehn Sonderzügen wurden sie von Prag über das Gebiet der DDR ins fränkische, westdeutsche Hof gebracht. Die Busse, die sie zum Bahnhof fuhren, kamen dann so prompt, dass vielen keine Zeit zum Packen blieb – wie den Eltern des Kindes, dem der Teddy gehörte.

Christian Seebode entdeckte ihn auf einem Feldbett in einem zurückgeschlagenen Schlafsack, als er mit seinen Kollegen ans Aufräumen ging. Auch weil das Kind ein Einzelbett hatte, geht er davon aus, „es war kein Kleinkind mehr, sondern im Grundschulalter“.
Was, wenn es sich nicht an den Spielgefährten erinnern kann?
„Dann erinnern sich die Eltern und melden sich“, hofft der frühere Diplomat, der seit seiner Pensionierung in Berlin lebt. Deshalb, ergänzt er, habe er den Bären damals an sich genommen: „Falls er vermisst wird. Dann hätte ich ihn zurückgebracht.“ Niemand in der Familie Seebode gab ihm einen Namen, „weil er sicher schon einen hat.“  Vielleicht kommt er nun ans Licht.

„Ich übergebe den Teddy persönlich“, hat sich Christian Seebode vorgenommen.

Unter den Hinweisen, die ihn bislang erreichten, war noch nicht der entscheidende Treffer. Gleichwohl gab es wertvolle Tipps. Ein Mann aus dem Badischen schrieb, er habe seinen Kindern Weihnachten 1988 „baugleiche“ Bären unter den Christbaum gelegt und diese zuvor bei Karstadt gekauft, allerdings mit Schal und Mütze. Die fehlen dem Prager Teddy. Eine Frau aus Sachsen äußerte, sie bezweifle, dass der Bär ein in der DDR gefertigtes Spielzeug gewesen sei, dass Wäscheetikett sei aus hellem Nylon – untypisch. Eine Zuschrift aus Thüringen gab zu bedenken, „dass im Osten produzierte Spielwaren häufig als Devisen in den Westen verkauft wurden und es gang und gäbe gewesen sei, Plüschtiere dort dann mit entsprechenden „West-Etiketten“ zu versehen“.
Dass der Prager Teddy als West-Spielzeugspende in der Botschaft landete, schließt Christian Seebode aus. „An Spenden bekamen wir nur Kinderbücher. Der Bär ist mitgebracht worden.“

Fotos: privat

Erfolgsgeschichten

30 Jahre Mauerfall – ohne dich undenkbar

— Ein Projekt des Pressenetzwerks für Jugendthemen.

 Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls wollen wir – teilen, teilen, teilen. Und zwar: Geschichten. Wir über uns. 

Es gibt Menschen, die wären nicht da wo sie sind, hätte es den 9. November 1989 nicht gegeben. Der Sessel im Büro: Leer. Die andere Hälfte des Bettes: Verwaist. Der Kindersitz im Auto: Nicht existent. Das Fußballteam: Zehn statt elf Freunde. Der Münsteraner Tatort: Thiel ohne Boerne. Die Wende steckt voller Erfolgsgeschichten. Wir wollen alle hören! Der Tag an dem die deutsch-deutsche Grenze aufgehoben wurde, initiiert seit drei Jahrzehnten Begegnungen, die zu Wendepunkten in unserem Leben geworden sind. Ein Anlass, sie aufzuschreiben, die Menschen zu porträtieren und aufzuspüren, was sie in den kommenden Jahrzehnten vorhaben. Unser Ziel ist, mindestens 89 Begegnungen zu dokumentieren, egal ob von Ost nach West oder von West nach Ost. Die Richtung stimmt! 

Unter den Hashtags #postwendend #dankex89, #ohnedichundenkbar und #89begegnungen sammelt das PNJ Episoden. Wir teilen sie über unsere sozialen Medien, einige werden wir in größeren Beiträgen aufgreifen und gemeinsam mit Tageszeitungen, Radio- und TV-Sendern in die Fläche tragen. Aus vielen Mosaiksteinchen wird ein Ganzes. Was wir wollen, ist: Das Gedenken „30 Jahre Mauerfall“ auf die persönliche Ebene bringen, weg vom reinen Ereignis, das die jüngeren Generationen nicht mehr bewusst oder noch gar nicht erlebt haben. Und trotzdem leben: Die Wiedervereinigung ist für 95 Prozent der unter 30-Jährigen die wichtigste Zäsur in der jüngeren Geschichte. Ein Plädoyer für mehr Wir.